Goethe über Reichtum und erben

„Ich wünschte“, sagte Wilhelm darauf, „daß durch eure Äußerungen weder Neid noch Eigenliebe durchschiene und daß ihr jene Personen und ihre Verhältnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist, diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen.“

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) – Dichter und Naturforscher

Das Zitat stammt aus dem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“